20 inspirierende visuelle Momente in Citizen Kane
Citizen Kane (1941)
Wenn man Orson Welles‘ fröhlicher Aussage zustimmt, dass das Drehen eines Films „die größte elektrische Eisenbahn ist, die ein Junge je hatte“, dann ist sein Spielfilmdebüt Citizen Kane die Hightech-Lokomotive, die das Kino in die Zukunft befördert hat. Der Film gilt nach wie vor als einer der größten Filme aller Zeiten, und sein enormer Einfluss wird nur noch durch seinen Ruf als eines der originellsten und überschwänglichsten Meisterwerke des Kinos übertroffen. Anlässlich des 75. Jahrestages des Films werden hier nur einige der visuellen Innovationen von Welles und seinem Meisterkameramann Gregg Toland vorgestellt.
- SPOILER-WARNUNG Dieses Feature verrät einige Aspekte der Handlung des Films
1. Schon in der Eröffnungssequenz zeigt der Film seine bravouröse visuelle Intelligenz. Die ahnungsvolle Einführung in Kanes Festung Xanadu zeigt ein einzelnes Licht aus einem oberen Raum im Inneren…
…und in einer Reihe von Überblendungen, die sogar eine Reflexion auf dem Wasser einschließen…
…wir kommen langsam immer näher an Xanadu heran…
…und mit jeder Einstellung, die uns näher bringt…
…bleibt die Lichtquelle…
…an genau der gleichen Stelle im Bild. Einfach, fließend, elegant.
2. Eine der berühmtesten Nahaufnahmen der Filmgeschichte – in einem Film, der sie nur selten zeigt: Kanes letztes Wort, „Rosebud“, das das Geheimnis des Kerns der Geschichte aufdeckt. Man beachte die wirbelnden Schneeflocken, die bereits einen psychologischen wie physischen Raum andeuten.
3. Ein verwirrender Blick durch das zerbrochene Glas von Kanes fallengelassener Schneekugel. Ist dies die Art und Weise, wie der gesamte Film zu sehen ist – Erinnerung und Fantasie, die die Realität verzerren?
4. Ein brillanter Tempowechsel: vom bedrohlichen Gothic-Drama zu den flotten gefälschten Wochenschauaufnahmen von „News on the March“, einer klugen Zusammenfassung von Charles Foster Kanes Leben, die als Nachruf erzählt wird…
…und voller visueller Erfindungen. Hier geht Welles Woody Allens Zelig (1983) um mehr als 40 Jahre voraus, indem er sich selbst in Archivaufnahmen – die absichtlich alt und verblasst aussehen – mit berühmten historischen Figuren wie Adolf Hitler und, hier, US-Präsident Teddy Roosevelt einfügt.
5. Ein Beispiel für die schillernde Hell-Dunkel-Beleuchtung von Gregg Toland. Wie könnte man ein Rätsel besser lösen, als wenn man auch die Journalisten/Detektive in ein Geheimnis hüllt, wobei William Allands Ermittler Thompson immer von hinten oder als Silhouette gezeigt wird. Der Kritiker Roger Ebert meinte, dies sei eine Anspielung auf das Konzept des US-Magnaten Henry R. Luce für gesichtslosen Gruppenjournalismus.
6. Reine Effekthascherei von Welles und Toland. Um Kanes zweite Frau Susan vorzustellen, schwenkt die Kamera auf die Außenseite der schäbig aussehenden Bar, in der sie auftritt…
…geht durch die Leuchtreklame…
…schwenkt nach unten auf das regennasse Oberlicht, durch das wir Susan gerade noch an einem Tisch sehen können…
… und dann benutzt Welles einen Blitz als Deckung für eine schnelle Überblendung…
… bevor er in das Innere der Bar hinunterfährt, als ob die Kamera in einer einzigen Einstellung durch das Glas gegangen wäre.
7. Eine der berühmtesten, wirklich ununterbrochenen Einstellungen des Films. Sie beginnt draußen mit dem jungen Charles, der im Schnee spielt und sich seines bevorstehenden Schicksals nicht bewusst ist…
…die Kamera verfolgt das Innere des Fensters, während seine Mutter zuschaut…
…und fährt quer durch den Raum, als der Deal abgeschlossen wird, Charles an den Bankier Mr. Thatcher zu verkaufen. Charles wird schließlich im Fenster im Hintergrund zwischen seinen streitenden Eltern positioniert – sogar gefangen gehalten -, wobei Thatcher auf der gleichen Seite wie seine Mutter steht, die sich über seinen unfähigen Vater hinwegsetzt. Das ist eine brillante visuelle Erzählung…
8. …wie auch eine folgende Sequenz (und ein Hinweis auf „Rosebud“), die den geliebten Schlitten des jungen Charles zeigt, der nun im Schnee begraben ist. Als Welles einblendet…
…das Geschenkpapier eines Weihnachtsgeschenks, das weggerissen wird, um einen schicken neuen Schlitten zum Vorschein zu bringen…
…zeigt der Gesichtsausdruck von Charles deutlich, dass sein neuer Reichtum und seine Privilegien kein Ersatz für das sind, was er jetzt verloren hat.
9. Ein weiterer sehr einfallsreicher Übergang. Als der erwachsene Kane, jetzt ein Zeitungsverleger, das Foto der Mitarbeiter der konkurrierenden Zeitung The Chronicle bewundert, fährt die Kamera näher an die Aufstellung heran…
…während Kane uns erzählt, dass er sie sechs Jahre später alle aufgekauft hat, um für seine Zeitung Inquirer zu arbeiten…
…und er tritt ins Bild, um zu zeigen, dass sie jetzt – in genau derselben Position – für sein eigenes Foto posieren. Genial.
10. Die zahlreichen Rückblenden sind klug geplant. Hier erinnert sich Joseph Cottens Jed Leland an Kanes Ehe, die Kamera ist bereits links positioniert, damit die nächste Szene überblendet werden kann, während Leland noch darüber spricht.
11. Ein weiterer schillernder Einsatz der Montage, um den Niedergang von Kanes erster Ehe zu zeigen. Zunächst sitzen sie eng beieinander und aufmerksam am selben Tisch…
…eine Reihe von Schwenkbewegungen zwischen einzelnen mittleren Aufnahmen von Kane und Emily zeigt das Vergehen der Zeit und ihre allmähliche Distanzierung…
…bestätigt durch die abschließende Totale von zwei desinteressierten Partnern, die getrennt voneinander sitzen und sich einen Tisch teilen, aber sonst wenig.
12. Kanes politische Kundgebung im Madison Square Garden würde normalerweise eine große Anzahl von Statisten erfordern, um das Ausmaß der Veranstaltung zu verdeutlichen. Stattdessen wurden matte Zeichnungen der Arena verwendet, in die kleine Löcher geschnitten wurden, um Licht durchscheinen zu lassen und den Eindruck von Zuschauern und Bewegung zu vermitteln.
13. Welles‘ Gespür für die räumliche Komposition und das Blocking seiner Schauspieler war untrüglich. Hier, in der Szene, in der Kanes politischer Rivale Jim Geddes seiner Frau Susan seine Geliebte offenbart, unterstreicht die Kadrierung konkurrierender Blicke und Augenlinien das komplexe Geflecht der Emotionen, die im Spiel sind.
14. Citizen Kane wird regelmäßig aus niedrigen Winkeln gefilmt, was den innovativen Einsatz von Deckenkulissen erforderte – ideal, um die Grenzen des Aufstiegs des Protagonisten zur Macht zu verdeutlichen. In dieser Sequenz nach der Wahlniederlage wird der niedrigste Aufnahmewinkel des Films verwendet, und zwar von einem speziellen Graben aus, der Kane als isoliert und von oben bis unten völlig eingeengt zeigt.
15. Zu den vielen optischen Täuschungen des Films gehört auch diese geschickte Vergrößerung des Maßstabs. Als Susan auf der Bühne auftritt und die Kamera in Richtung der Takelage aufsteigt…
…fügte Welles eine Miniatur ein, die im RKO-Studio gebaut wurde, um die zusätzliche Höhe zu übertreiben, während die Kamera bis zu den Dachsparren aufsteigt…
…wo eine verbundene Live-Aufnahme das missbilligende Urteil der Bühnenarbeiter über Mrs. Kanes Gesangskünste zeigt.
16. Citizen Kane ist berühmt für die Verwendung von „Deep Focus“-Fotografie, bei der alle Elemente im Bild gleichzeitig scharf abgebildet werden, was innovative Kombinationen von Kameraobjektiven, Beleuchtung und Komposition erforderte. Das Ergebnis ist, wie hier, eine reiche Inszenierung und Tiefenschärfe in einer einzigen Einstellung, die Kane, seinen kurz vor der Entlassung stehenden Freund Jed Leland und den im Hintergrund wartenden, immer noch loyalen Angestellten Bernstein überlagert.
17. Charles Foster Kane an seinem Tiefpunkt, gealtert und verlassen, eine gebrochene Seele, wunderbar visualisiert durch diese Spiegelsaalaufnahme. Es ist auch ein schönes Gegenmittel gegen die Vorstellung, dass das Leben eines Menschen in einem einzigen Wort zusammengefasst werden kann.
18. Die überwältigende Kamerafahrt über den riesigen materiellen Besitz des verstorbenen Kane, eine Einstellung, die heute mühelos gelingt, damals aber eine verblüffende kameratechnische Meisterleistung war (Spielberg huldigte ihr in den Schlussszenen von Raiders of the Lost Ark).
19. Die vorletzte Einstellung des Films, die jeder kennt: die Identität von Charles Foster Kanes „Rosebud“, kurz bevor auch sie sich in Rauch auflöst, ihr Geheimnis ungelöst – und wirklich, in einem weiteren Sinne, unlösbar.
20. Bei allem Gerede über die Arroganz und das Ego von Orson Welles verrät der abschließende Vermerk zu Kane, den er sich mit Gregg Toland teilt, ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für den unschätzbaren Beitrag seines Partners in Sachen Verbrechen. Man kann vielleicht eine Eisenbahnanlage ganz allein bauen, aber ein Film erfordert Teamarbeit – was Welles hier gebührend anerkennt.
Citizen Kane ist jetzt als Blu-ray-Edition zum 75.