Mythos
Mythos ist eine besondere Form der mündlichen Literatur, deren Thema kosmologisch ist. Früher dachte man, dass viele solcher Geschichten erklärend sind. Einige sind es zweifellos, darunter auch solche von der Sorte „deshalb hat das Kamel einen Höcker“, aber die meisten sind es nicht, auch wenn die intellektuelle Neugier (manchmal ausgedrückt durch den Begriff der Suche, zum Beispiel) oft enthalten ist. Für einige Kommentatoren stand der Mythos im Mittelpunkt der Volkserzählungen: Die Bedeutung der Volkserzählungen ergab sich aus ihrem angenommenen Status als aufgeschlüsselte Mythen, die solare, meteorologische oder andere Naturphänomene erklärten. Andere Kommentatoren (wie z. B. die Vertreter der Mythos- und Ritualschule zu Beginn des 20. Jahrhunderts) haben die Erklärung des Mythos als Funktion des Rituals und des Rituals als Funktion des Mythos gesehen. Eine solche Erklärung trägt jedoch wenig dazu bei, den Inhalt des Mythos oder des Rituals zu erklären. Andere, wie Bronisław Malinowski und die funktionalistische Schule, haben den Mythos als eine legitimierende „Charta“ sozialer Institutionen verstanden. Später im 20. Jahrhundert ging man zu Interpretationen des Mythos über, die auf der Suche nach verborgenen Bedeutungen beruhten, wobei sich einige auf die Psychoanalyse, andere auf verschiedene Ansätze zur symbolischen Entschlüsselung und wieder andere auf strukturalistische Analysen stützten, insbesondere auf die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss, der in den Mythen eine zugrunde liegende Struktur abstrakter Ähnlichkeiten (oft binärer Art) zwischen einer Reihe sozialer Institutionen suchte.
Mythen werden oft als die höchste Errungenschaft der mündlichen Literatur angesehen. Sie ist sicherlich für Außenstehende am interessantesten und gleichzeitig am schwierigsten zu verstehen, denn obwohl sie sich mit kosmologischen Themen befasst, ist der Mythos in gewisser Weise die lokalste Gattung und am stärksten in das kulturelle Geschehen eingebettet (z. B. wenn er in einem ganz bestimmten zeremoniellen Kontext vorgetragen wird). Die mündliche Literatur der australischen Aborigines zum Beispiel hat eine wesentliche zeremonielle Funktion. Die Liederzyklen und Erzählungen beziehen sich auf das Dreaming, eine mythologische Vergangenheit, in der die bestehende Umwelt von den Ahnen geformt und vermenschlicht wurde. Diese Darbietungen können für die breite Öffentlichkeit zugänglich sein (und damit einer Unterhaltung ähneln) oder allen außer Eingeweihten verschlossen bleiben.
Es ist wichtig, zwischen Beiträgen zu Mythologien (d. h. Darstellungen von Weltanschauungen, die von Beobachtern konstruiert wurden) und Mythen im engeren Sinne zu unterscheiden, bei denen es sich um tatsächliche Rezitationen zu einem kosmologischen Thema handelt (z. B. Schöpfungsmythen). Letztere sind relativ selten und ungleichmäßig über die Welt verteilt, da sie nur unter bestimmten Umständen vorgetragen werden. Das Wissen, das sie enthalten, ist also nicht für alle, sondern nur für bestimmte Personen zugänglich. So sind beispielsweise Frauen in einigen Gruppen von bestimmten rituellen Anlässen ausgeschlossen. Doch können diese Frauen, die von einem bestimmten Wissen ausgeschlossen sind, auch parallele Zeremonien abhalten, von denen Männer ausgeschlossen sind und bei denen Frauen verschiedene Wissensbestände weitergeben.
Mythen wurden früher wortwörtlich von einer Generation zur nächsten weitergegeben, zum Teil deshalb, weil diejenigen, die die Mythen übermittelten, die Situation oft so verstanden. So wurden die Mythen als „Schlüssel zur Kultur“ interpretiert, die ein privilegiertes Licht auf die Gesellschaft als Ganzes werfen. Mit dem Aufkommen des tragbaren Tonaufzeichnungsgeräts und der Flugreisen konnten die Forscher jedoch in regelmäßigen Abständen zurückkehren, um solche Rezitationen im tatsächlichen Kontext der Aufführung aufzuzeichnen, anstatt mit Bleistift und Papier in einer dekontextualisierten Situation. Diese neuen Techniken zeigten, dass sich Mythen im Laufe der Zeit erheblich verändern, wobei die Erfordernisse der mündlichen Überlieferung eine solche generative Übertragung geradezu notwendig machen. Mit anderen Worten: Menschen erfinden und ergänzen, wo sie sich nicht perfekt erinnern können. Das Ergebnis ist eine Vielzahl von Versionen, die über die Zeit (und den Raum) verteilt sind, aber wohl kein fester Text, wie man ihn oft in der schriftlichen Literatur findet.