Jabberwocky

Letzte Aktualisierung am 5. Mai 2015, von eNotes Redaktion. Word Count: 1202

Universelle Anziehungskraft

Sicherlich ist einer der attraktivsten Faktoren in Lewis Carrolls „Jabberwocky“ die schiere Zeitlosigkeit des Schauplatzes des Gedichts. Die Begegnung des Jungen mit dem geheimnisvollen Jabberwocky hat keinen spezifischen Bezugspunkt in der Geschichte. Das macht das Gedicht so universell, denn „Jabberwocky“ kann Leser aller Epochen fesseln – ob aus dem Elisabethanischen, Viktorianischen oder Industriellen Zeitalter, aus der Computerzeit oder aus anderen Epochen. Obwohl das Gedicht in der Blütezeit des viktorianischen Englands geschrieben und veröffentlicht wurde, sind keine besonderen Kenntnisse über diese Epoche erforderlich, um das Gedicht zu verstehen und zu genießen. Ebenso könnte ein vernünftiges Faksimile von „Jabberwocky“ in jeder beliebigen historischen Epoche verfasst worden sein, da das Gedicht keine erkennbaren Hinweise auf Carroll, sein Leben oder seine Zeit enthält. Ein römischer Schreiber in Pompeji namens Barnacus Frabjus könnte ein „Jabberwocky“-ähnliches Gedicht geschrieben haben (und in der Tat hätte seine Leserschaft angesichts ihrer Empfänglichkeit für die wilden, fantastischen Kreaturen, die in ihrer Mythologie eingebettet sind, das Ding verschlungen), ebenso wie ein Beatnik-Barde, der sich um 1960 Opium-induzierten Exkursionen auf der Seite hingab. Der Punkt ist, dass „Jabberwocky“ die Vorstellungen von Zeit und Geschichte übersteigt, und dadurch, dass das Gedicht dies getan hat, wächst seine Leserschaft jährlich um Tausende, wenn nicht Millionen.

Viktorianisches England

Es ist klar, dass Carroll das narrative Element seines Gedichts (d.h., (d.h. die Suche des Jungen nach und die Begegnung mit dem Jabberwock) an mythologische Kämpfe wie den Kampf des Herkules mit der Hydra, einem wilden Tier mit sieben drachenartigen Köpfen, erinnern. Carrolls Hauptanliegen in dem Gedicht ist der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, und für viele (wenn nicht die meisten) Leser reicht es aus, das Gedicht auf dieser Ebene zu interpretieren. Wenn die Leser jedoch unter die Oberfläche des Gedichts blicken, kann „Jabberwocky“ im Hinblick auf die Zeit, in der es geschrieben wurde, interpretiert werden. Veröffentlicht als Teil von Carrolls Through the Looking-Glass (1872), der mit Spannung erwarteten Fortsetzung von Alice’s Adventures in Wonderland (1865), debütierte „Jabberwocky“ auf dem Höhepunkt des Viktorianischen Zeitalters (1834-1901), als England in Bezug auf Macht, Reichtum und kulturellen Einfluss eine enorme Expansion erlebte. Zu dieser Zeit hatte England in der ganzen Welt das Sagen, und andere Länder, wie das vom Krieg geschlagene Frankreich, müssen neidisch auf Englands globale Überlegenheit gewesen sein. Tatsächlich erlebte England 1872 eine Renaissance, wie es sie seit der elisabethanischen Zeit nicht mehr gesehen hatte.

Die Bedrohung durch Deutschland

Doch die „Barbaren“ klopften sozusagen an die Tore. Die Engländer sahen in den Preußen (Germanen) seit langem eine besorgniserregende Bedrohung für die „zivilisierte“ Welt, und im Januar 1871, weniger als ein Jahr vor der Veröffentlichung von „Jabberwocky“, wurde Deutschland im Rahmen der Reichsproklamation neu geeint, was das Gleichgewicht der Kräfte in Europa zu kippen drohte und in Großbritannien ein Gefühl der Unsicherheit hervorrief. Für „Verteidiger des Königreichs“ wie Carroll hätte das Erstarken Deutschlands und seiner „barbarischen“ Völker zumindest ein gewisses Unbehagen hervorgerufen. Diese damals spürbare Angst eröffnet einen interessanten potenziellen Subtext zum scheinbar unschuldigen „Jabberwocky“. Könnten der Jabberwock, der Jubjub-Vogel und der Bandersnatch (man beachte, dass diese Namen sprachlich einen gewissen germanischen Klang haben), die in dem Gedicht alle als bestialische, wilde Kreaturen dargestellt werden, die verkleideten germanischen „Barbaren“ sein? Könnte der Held des Gedichts (der Junge, der seine Männlichkeit unter Beweis stellen will) ein Symbol für ein Großbritannien sein, das losziehen und den Jabberwock eines aufstrebenden Deutschlands zähmen muss? In Anbetracht des damaligen politischen Umfelds könnte Carroll unbewusst eine Angst zum Ausdruck gebracht haben, die viele Briten 1872 empfunden hätten.

Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass Interpretationen wie die deutschen und afrikanischen Verbindungen zu „Jabberwocky“, die oben diskutiert wurden, zwar zum Nachdenken anregen, aber letzten Endes nicht haltbar sind. Schließlich war Carroll nicht gerade das politisch aktivste Mitglied der viktorianischen Gesellschaft, und wenn man „Jabberwocky“ im Hinblick auf die geopolitischen Machenschaften der damaligen Zeit betrachtet, könnte man zu viel in das Gedicht hineinlesen. So ist beispielsweise gut dokumentiert, dass die erste Strophe von „Jabberwocky“ 1855 geschrieben wurde, zu einer Zeit, als Deutschland von den Engländern nicht als so große Bedrohung angesehen wurde. Dennoch wäre es naiv und anmaßend zu glauben, dass Englands globales Schachspiel des Kolonialismus im viktorianischen Zeitalter keine Auswirkungen auf Carroll hatte, weder bewusst noch unbewusst. 1872 wuchs in England die Besorgnis über Deutschland, und ironischerweise war diese Besorgnis im Falle Carrolls vielleicht berechtigt. Wie die Autorin Anne Clark in Lewis Carroll: A Biography fest, dass Dr. Robert Scott, Mitverfasser des Griechischen Lexikons, im Februar 1872 „eine ausgezeichnete deutsche Übersetzung“ des „Jabberwocky“ schrieb, kurz nach dem ersten Erscheinen des Gedichts in Through the Looking-Glass um Weihnachten 1871. Wie Clark in ihrem Buch berichtet, behauptete Scott außerdem, dass seine Übersetzung das Original und Carrolls Gedicht die Übersetzung sei! Schon damals, so scheint es, rüsteten sich England und Deutschland für einen Kampf – wenn schon nicht um die Kontrolle über Europa, so doch zumindest um die Kontrolle über die Urheberschaft des „Jabberwocky“.

Das koloniale Afrika

Deutschland war jedoch nicht die einzige Quelle der Sorge für England in den 1870er Jahren. Zusammen mit anderen europäischen Staaten war Großbritannien tief in ein Schachspiel um die Kontrolle strategisch wichtiger Teile Afrikas verwickelt, und es sollte nicht lange dauern, bis die Briten und die Afrikaner holländischer Abstammung im ersten Burenkrieg von 1880-81 um Gebiete in Afrika kämpften. Interessanterweise war Afrika zu der Zeit, als „Jabberwocky“ veröffentlicht wurde, eine Quelle großer Verwunderung für die Briten, da jedes Jahr neue Arten von Flora und Fauna entdeckt wurden. Die öffentlichkeitswirksame Suche des britischen Entdeckers Henry Morgan Stanley nach Dr. David Livingstone im afrikanischen Dschungel stand damals ganz im Zeichen der Öffentlichkeit. Stanley fand Livingstone im Jahr 1871, demselben Jahr, in dem „Jabberwocky“ zum ersten Mal gedruckt wurde, obwohl das offizielle Veröffentlichungsdatum für „Through the Looking-Glass“ 1872 ist. Diese populäre Faszination für die dunklen Geheimnisse Afrikas mag die Wortwahl Carrolls in „Jabberwocky“ beeinflusst haben. Der Jubjub-Vogel, der Bandersnatch, der Tumtum-Baum – unterscheiden sich diese anschaulichen, klanglich fesselnden Namen so sehr von den Namen real existierender afrikanischer Arten wie dem Bongo und der Tsetsefliege, die zu jener Zeit entdeckt wurden?

Conrads Herz der Finsternis

Diese afrikanische Verbindung scheint auch für das Thema der heldenhaften Suche im Gedicht relevant zu sein, da der Held (in diesem Fall der Junge, der den Jabberwock sucht) oft in die dunkelsten und entferntesten Gebiete der bekannten Welt reisen musste, um die gefürchtete Inkarnation des Bösen zu töten, was auch immer es sein mag. Und zu Carrolls Lebzeiten wurde kein Ort in der bekannten Welt als dunkler, geheimnisvoller und potenziell lebensbedrohlicher angesehen als Afrika. Tatsächlich sollte es nicht lange dauern, bis der Romanautor Joseph Conrad in Heart of Darkness (1899) das Thema der Reise ins Zentrum des Bösen und der Verderbtheit in Afrika auf unvergessliche Weise aufgriff: Er schildert die Reise einer Figur namens Marlow den Kongo-Fluss hinunter auf der Suche nach einem Verrückten namens Kurtz, der bei bestimmten Stammesangehörigen im Dschungel den Status eines Gottes erlangt hat. Kurtz und der Jabberwock sind Agenten des Bösen und des Chaos, die Marlow und Carroll (in Gestalt des Jungen) zu neutralisieren und damit zu kontrollieren versuchen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.