Merkblatt zum multisensorischen strukturierten Sprachunterricht

Was versteht man unter multisensorischem Unterricht?

Multisensorischer Unterricht ist ein wichtiger Aspekt des Unterrichts für legasthene Schüler, der von klinisch ausgebildeten Lehrern eingesetzt wird. Wirksamer Unterricht für Schüler mit Legasthenie ist auch explizit, direkt, kumulativ, intensiv und auf die Struktur der Sprache ausgerichtet. Beim multisensorischen Lernen werden die visuellen, auditiven und kinästhetisch-taktilen Kanäle gleichzeitig genutzt, um das Gedächtnis und das Erlernen der Schriftsprache zu verbessern. Beim Erlernen des Lesens und der Rechtschreibung werden immer wieder Verbindungen zwischen den visuellen (Sprache, die wir sehen), auditiven (Sprache, die wir hören) und kinästhetisch-taktilen (Sprachsymbole, die wir fühlen) Bahnen hergestellt.

Margaret Byrd Rawson, eine ehemalige Präsidentin der International Dyslexia Association (IDA), hat es gut ausgedrückt:

‚ÄúLegasthene Schüler brauchen einen anderen Ansatz zum

Sprachlernen als in den meisten Klassenzimmern. Man muss ihnen langsam und gründlich die Grundelemente ihrer Sprache beibringen – die Laute und die Buchstaben, die sie repräsentieren – und wie sie diese zusammensetzen und auseinandernehmen können. Sie müssen viel Übung darin haben, ihre schreibenden Hände, Augen, Ohren und Stimmen zusammenarbeiten zu lassen, um ihr Lernen bewusst zu organisieren und zu behalten.’Äù

Lehrer, die diesen Ansatz verwenden, helfen den Schülern, die Sprachlaute in Wörtern (Phoneme) wahrzunehmen, indem sie beim Sprechen in den Spiegel schauen oder die Bewegungen ihres Mundes übertreiben. Die SchülerInnen lernen, Sprachlaute (Phoneme) mit Buchstaben oder Buchstabenmustern zu verbinden, indem sie Laute für Buchstaben sagen, die sie sehen, oder Buchstaben für Laute schreiben, die sie hören. Wenn die Schüler einen neuen Buchstaben oder ein neues Buchstabenmuster (z. B. s oder th) lernen, können sie fünf bis sieben

Wörter wiederholen, die von der Lehrkraft diktiert werden und den Klang des neuen Buchstabens oder Musters enthalten; die Schüler entdecken den Klang, der in allen Wörtern gleich ist. Als Nächstes können sie sich die Wörter auf einem Blatt Papier oder an der Tafel ansehen und den neuen Buchstaben oder das neue Muster entdecken. Schließlich zeichnen sie den/die Buchstaben sorgfältig nach, kopieren und schreiben ihn/sie und sagen den entsprechenden Laut. Der Laut kann von der Lehrkraft diktiert werden, und der/die Buchstabenname(n) wird/werden von den Schülern genannt. Die Schüler lesen und buchstabieren dann Wörter, Phrasen und Sätze nach diesen Mustern, um ihre Lesefertigkeit zu verbessern. Lehrer und Schüler nutzen alle drei Lernwege und konzentrieren sich nicht nur auf die „Ganzwortmethode“, die „Nachspürmethode“ oder die „phonetische Methode“.

Das Prinzip, Bewegung mit Sprechen und Lesen zu verbinden, wird auch auf anderen Ebenen des Sprachenlernens angewendet. Schüler können Handgesten lernen, um sich die Definition eines Substantivs einzuprägen. Die Schüler können Wortkarten manipulieren, um Sätze zu bilden, oder die Wörter in Sätzen klassifizieren, indem sie sie physisch in Kategorien einordnen. Sie können Sätze verschieben, um Absätze zu bilden. Die Elemente einer Geschichte können mit Hilfe eines dreidimensionalen, taktilen Hilfsmittels vermittelt werden. In allen Fällen werden Hand, Körper und/oder Bewegung eingesetzt, um das Verstehen oder die Produktion von Sprache zu unterstützen.

Was ist der Grundgedanke des multisensorischen, strukturierten Sprachunterrichts?

Schüler mit Legasthenie weisen häufig Schwächen in den grundlegenden Sprachfertigkeiten auf, die die Verarbeitung von Sprachlauten (phonologisch) und Schrift (orthografisch) sowie den Aufbau von Gehirnbahnen betreffen, die Sprache und Schrift miteinander verbinden. Die Gehirnbahnen, die für das Lesen und die Rechtschreibung verwendet werden, müssen sich so entwickeln, dass sie

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viele Gehirnbereiche miteinander verbinden und Informationen mit ausreichender Geschwindigkeit und Genauigkeit übertragen. Die meisten Schüler mit Legasthenie haben eine schwache phonemische Bewusstheit, d.h. sie sind sich der Rolle, die Laute in Wörtern spielen, nicht bewusst. Diese Schüler haben möglicherweise auch Schwierigkeiten, Wörter zu reimen, Laute zu Wörtern zu verbinden oder Wörter in Laute zu zerlegen. Da sie Schwierigkeiten haben, Assoziationen zwischen Lauten und Symbolen herzustellen, haben sie auch Schwierigkeiten, Wörter automatisch

(‚Äúby sight’Äù) oder schnell genug zu erkennen, um

verstehen zu können. Wenn sie Laute oder Symbole nicht richtig erkennen, haben sie Schwierigkeiten, sich Wörter zu merken, selbst die kleinen Wörter in den Büchern der Schüler. Sie brauchen speziellen

Unterricht, um den alphabetischen Code zu beherrschen und diese Erinnerungen zu bilden.

Wenn ein multisensorischer Ansatz verfolgt wird, haben die Schüler den Vorteil, dass sie alphabetische Muster und Wörter unter Einbeziehung aller Lernmodalitäten lernen. Dr. Samuel Terry Orton, einer der ersten, der das Syndrom der Legasthenie bei Schülern erkannte, schlug vor, dass das Lehren der ‚ÄúGrundlagen der phonischen Assoziation mit Buchstabenformen, die sowohl visuell präsentiert als auch schriftlich wiedergegeben werden, bis die richtigen Assoziationen aufgebaut sind,’Äù Schülern aller Altersgruppen zugute kommen würde.

Was ist der Orton-Gillingham-Ansatz?

Dr. Orton und seine Kollegen begannen Mitte der 1920er Jahre in der von ihm geleiteten

mobilen Klinik für geistige Gesundheit in Iowa mit multisensorischen Techniken. Dr. Orton wurde von der kinästhetischen Methode beeinflusst, die von Grace Fernald und Helen Keller beschrieben wurde. Er schlug vor, dass die kinästhetisch-taktile Verstärkung von visuellen und auditiven Assoziationen die Tendenz korrigieren könnte, ähnliche Buchstaben zu verwechseln und die Reihenfolge der Buchstaben beim Lesen und Schreiben zu vertauschen. So wird beispielsweise Schülern, die b und d verwechseln, beigebracht, bei der Bildung der einzelnen Buchstaben einheitliche, unterschiedliche Striche zu verwenden. Die Schüler machen den senkrechten Strich, bevor sie den Kreis zeichnen, wenn sie den Buchstaben b schreiben; sie bilden den Kreis, bevor sie den senkrechten Strich zeichnen, wenn sie den Buchstaben d schreiben.

Anna Gillingham und Bessie Stillman stützten sich in ihrem ursprünglichen Lehrbuch für die „alphabetische

Methode“ von 1936 auf die Theorien von Dr. Orton. Sie kombinierten

multisensorische Techniken mit der Vermittlung der Struktur des geschriebenen Englisch, einschließlich der Laute (Phoneme), Bedeutungseinheiten (Morpheme wie Präfixe, Suffixe und Wurzeln) und allgemeiner Rechtschreibregeln. Der Ausdruck ‚ÄúOrton -Gillingham

Ansatz’Äù bezieht sich auf die strukturierten, sequenziellen,

multisensorischen Techniken, die von Dr. Orton, Frau Gillingham und ihren Kollegen entwickelt wurden. Viele Programme enthalten heute Methoden und Prinzipien, die erstmals in dieser grundlegenden Arbeit beschrieben wurden, sowie andere durch die Forschung unterstützte Praktiken.

Gibt es solide Beweise dafür, dass multisensorischer Unterricht für Schüler mit Legasthenie wirksam ist?

Aktuelle Forschungsarbeiten, die größtenteils vom National Institute of Child Health and Human Development (NICHD) unterstützt werden, haben den Wert eines expliziten, strukturierten Sprachunterrichts für alle Schüler nachgewiesen, insbesondere für diejenigen mit Legasthenie. Die Programme, die sich bewährt haben, unterscheiden sich in ihren Techniken, haben aber viele Grundsätze gemeinsam. Das multisensorische Prinzip, das von erfahrenen Klinikern so geschätzt wird, konnte in kontrollierten Vergleichsstudien zum Leseunterricht noch nicht isoliert werden, aber die meisten Programme, die funktionieren, beinhalten multisensorische Übungen zum Symbollernen. Wirksame Unterrichtsansätze nutzen die direkte, explizite Vermittlung von Buchstaben-Laut-Beziehungen, Silbenmustern und bedeutungsvollen Wortteilen und bieten eine Vielzahl erfolgreicher Übungen für die vermittelten Fähigkeiten. Übungen zum Aufbau des Redeflusses, Wortschatzunterricht, Sprachverständnis und Schreiben sind ebenfalls Bestandteil umfassender Unterrichts- und Förderprogramme. Worterkennungs- und Rechtschreibfähigkeiten werden beim sinnvollen Lesen und Schreiben von Sätzen und Textpassagen angewandt, und die Schüler erhalten sofortiges Feedback, wenn sie Fehler machen. Das Erraten von Wörtern und das Überspringen von Wörtern wird unterbunden und durch das Wissen ersetzt, wie man unbekannte Wörter analysiert und

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liest. Weitere wichtige Unterrichtsprinzipien sind im Folgenden aufgeführt.

Zusammenfassung: Was sind die Prinzipien eines multisensorischen, strukturierten Sprachunterrichts?

Ein effektiver multisensorischer Unterricht basiert auf den folgenden Grundprinzipien:

  • Simultaner, multisensorischer Unterricht (VAKT):

    Der Unterricht nutzt alle Lernwege im Gehirn (d.h. visuell, auditiv, kinästhetisch-taktil) gleichzeitig oder nacheinander, um Gedächtnis und Lernen zu verbessern.

  • Systematisch und kumulativ:

    Multisensorischer Sprachunterricht erfordert, dass die Organisation des Materials der logischen Reihenfolge der Sprache folgt. Die Reihenfolge muss mit den einfachsten und grundlegendsten Konzepten beginnen und methodisch zu schwierigerem Material übergehen. Jedes Konzept muss auf dem bereits Gelernten aufbauen. Die gelernten Begriffe müssen systematisch wiederholt werden, um das Gedächtnis zu stärken.

  • Direkte Instruktion: Das schlussfolgernde Lernen eines Konzepts kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Der multisensorische Sprachunterricht erfordert eine direkte Vermittlung aller Konzepte mit ständiger Interaktion zwischen Schüler und Lehrer.
  • Diagnostischer Unterricht: Der Lehrer muss in der Lage sein, den Unterricht flexibel oder individuell zu gestalten. Der Lehrplan basiert auf einer sorgfältigen und kontinuierlichen Bewertung der

    individuellen Bedürfnisse. Der dargebotene Inhalt

    muss Schritt für Schritt beherrscht werden, damit der Schüler Fortschritte macht.

  • Synthetischer und analytischer Unterricht:

    Multisensorische, strukturierte Sprachprogramme beinhalten sowohl synthetischen als auch analytischen Unterricht. Der synthetische Unterricht stellt die Teile der Sprache vor und lehrt dann, wie die Teile zusammenwirken, um ein Ganzes zu bilden. Der analytische Unterricht stellt das Ganze vor und lehrt, wie dieses

    in seine Einzelteile zerlegt werden kann.

  • Umfassend und inklusiv: Alle Ebenen

    der Sprache werden angesprochen, oft parallel, einschließlich Laute (Phoneme), Symbole (Grapheme), bedeutungsvolle Wortteile (Morpheme), Wort- und Satzbedeutungen (Semantik), Sätze (Syntax), längere Passagen (Diskurs) und die soziale Verwendung der Sprache (Pragmatik).

    IDA hat die Entwicklung einer Matrix von multisensorischen, strukturierten Sprachprogrammen (MSL) unterstützt, um es den Verbrauchern zu ermöglichen, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Programmen zu erkennen. Die Programme wurden für die Aufnahme in die Matrix ausgewählt, weil sie seit langem in Kliniken und Klassenzimmern eingesetzt und im Laufe der Zeit verfeinert wurden. Die in der Matrix enthaltenen Programme werden auf

    jeder ‚ÄúStufe’Äù der Schülerfähigkeiten eingesetzt. Einige sind

    für den Unterricht in der ganzen Klasse konzipiert, um akademisches Versagen zu verhindern. Einige sind für den Unterricht in kleinen Gruppen konzipiert. Und einige sind für den intensiven Unterricht konzipiert, der für Schüler mit schweren Leseschwächen erforderlich ist. Diese Matrix der multisensorisch strukturierten Sprachprogramme steht auf der IDA-Website zum Herunterladen bereit oder kann in gedruckter Form über den IDA-Buchhandel bezogen werden.

    Related Readings:

    Birsh, J. R. (Ed.). (2005 ). Multisensory teaching of basic language skills. Baltimore: Paul H. Brookes Publishing Co. Carreker, S., & Birsh, J. R. (2005). Multisensory teaching of basic language skills: Activity Book. Baltimore: Paul H. Brookes Publishing Co. Fletcher, J. M., Lyon, G. R., Fuchs, L. S., & Barnes, M. A. (2007). Learning disabilities: From identification to intervention . New York: The Guilford Press.

    Multisensory Structured Language Teaching – Seite 4

    ‚Äúpromoting literacy through research, education and advocacy’Äù’Ñ¢

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    ¬© Copyright 2014, The International Dyslexia Association (IDA). Die IDA ermutigt zur Vervielfältigung und Verbreitung dieses Merkblatts. Wenn Teile des Textes zitiert werden, muss ein entsprechender Hinweis gegeben werden. Merkblätter dürfen nicht zum Zwecke des Weiterverkaufs nachgedruckt werden.

    Henry, M. K. (2003). Unlocking literacy: Effektiver Dekodier- und Rechtschreibunterricht . Baltimore: Paul H. Brookes Publishing Co.

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    Buch, Lesen, Schreiben &Rechtschreibung: Der multisensorische strukturierte Sprachansatz.

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    Wolf, M. (2007). Proust und der Tintenfisch: Die Geschichte und Wissenschaft des lesenden Gehirns . New York: Harper Collins Publishers.

    Die International Dyslexia Association (IDA) dankt Marcia K. Henry, Ph. D., für ihre Unterstützung bei der Erstellung dieses Informationsblattes.

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